Diese Kältehilfeperiode war geprägt von einer problematischen Immobilienakquise. Wie kann man der zunehmend schwieriger werdenden Situation in Zukunft begegnen? Darum ging es bei der diesjährigen Kältehilfeabschlussveranstaltung am vergangenen Montag. Eingeladen waren Kooperationspartner*innen der Koordinierungsstelle Berliner Kältehilfe, Träger, Initiativen, Gemeinden, aber auch bezirkliche und staatliche Vertreter*innen.
Immobilienmangel wurde zur Belastungsprobe
Zu Beginn gaben die Kolleg*innen von der Koordinierungsstelle einen Einblick in die erfassten Zahlen zur Nutzung der Angebote. Auch in diesem Jahr ist der Bedarf an Notübernachtungsplätzen leicht gestiegen, obwohl der Winter insgesamt eher mild war. Besonders belastend war in diesem Winter der Mangel an ausreichenden Immobilien. Bereits im Oktober hatte die Koordinierungsstelle davor gewarnt, dass die Übernachtungsplätze nicht ausreichen würden. Aufgrund der fehlenden räumlichen Kapazitäten war die Auslastung insbesondere in der ersten Dezemberhälfte extrem hoch. Die Lage entspannte sich erst mit der Öffnung von zwei neuen Notübernachtungen mit insgesamt 172 Plätzen kurz vor dem Jahreswechsel. Eine positive Entwicklung: Während in den vergangenen Jahren ein Großteil der Notunterkünfte Ende März den Betrieb einstellte, bleiben im April 2024 außergewöhnlich viele Angebote weiter geöffnet. Ab Mai stehen dann bis zum Beginn der Kältehilfeperiode 2024/25 noch circa 450 Plätze zur Verfügung.
Bessere Versorgung durch stärkere Vernetzung und technische Neuerungen
Neben dem massiven Mangel an geeigneten Immobilien blickte man mit Sorge auf die weiterhin zunehmende Zahl an Frauen in Notunterkünften. Auch die schwierige Situation obdachloser Menschen mit psychischen Erkrankungen ist weiterhin ein drängendes Thema, berichtete Sabrina Niemietz von der Koordinierungsstelle Berliner Kältehilfe. Es wurden so viele Vermisstengesuche weitergeleitet wie noch nie und es fehlt weiterhin an einem adäquaten Hilfesystem für obdachlose Menschen mit psychischen Erkrankungen, insbesondere wenn zusätzlich Alkohol oder Drogen konsumiert werden. Glücklicherweise gibt es Bewegung: Die Vernetzung von Krankenhäusern, Einrichtungen der Wohnungsnotfall- und der Eingliederungshilfe, der Sozialen Wohnhilfe, dem Teilhabefachdienst und der Psychiatriekoordination wurde aktiv ausgebaut und neue Modellprojekte wie z.B. Osthafen von der Träger gGmbH gestartet. Auch auf anderen Ebenen gab es Neuerungen und Weiterentwicklungen. In diesem Winter kam erstmals das neue Ampelsystem auf der Webseite kaeltehilfe-berlin.de und der dazugehörigen App zum Einsatz. Das System soll tagesaktuell freie Plätze anzeigen und es so Betroffenen, Mitarbeitenden und Ehrenamtlichen in den Unterkünften erleichtern, freie Schlafplätze zu finden.
Erstmals einheitliche Standards für alle Bezirke
Ebenfalls neu war die Umsetzung einer Vereinbarung zwischen den Bezirksämtern und der Senatsverwaltung ASGIVA. Die Vereinbarung wurde am 09.06.2023 beschlossen und bietet erstmals eine schriftliche Grundlage zur einheitlichen Umsetzung und weiteren Gestaltung der Berliner Kältehilfe. Maßgeblich mitgestaltet wurden die Rahmenbedingungen durch das Positionspapier der AG Qualitätsentwicklung Kältehilfe, an der sich neben der Koordinierungsstelle zahlreiche Akteur*innen der Berliner Kältehilfe eingebracht hatten.
Dazu gehören z.B.
- Die Öffnungszeiten sind zwischen 20:00 Uhr und 8:00 Uhr sicherzustellen. Eine darüberhinausgehende Öffnung ist möglich, jedoch auf 16h täglich begrenzt.
- Im Falle noch freier Plätze sollte die Möglichkeit bestehen, die ganze Nacht über Personen aufzunehmen.
- Aus Sicherheitsgründen müssen während der Öffnungszeiten mindestens zwei Personen zeitgleich (unabhängig ob Trägerpersonal oder Sicherheitsdienst) in der Notübernachtung/im Nachtcafé anwesend sein.
- Es besteht die Möglichkeit, Mittel für Supervision für das Personal in den Kostenplan aufzunehmen. Die Kosten sollten 2% der Personalkosten – ohne Wachsschutz und Reinigung – nicht überschreiten.
- Vor Beginn der Kältehilfeperiode bietet die Sen ASGIVA ein Vorbereitungsseminar für die Mitarbeitenden der Kältehilfeangebote an.
Mehr Mitsprache und Partizipation von Betroffenen gefordert
Auch in den anschließenden Redebeiträgen und in der von Ingo Bullermann, Geschäftsführer Neue Chance, moderierten Diskussion waren die aktuellen Entwicklungen und Zukunftsaussichten Thema.
Robert Veltmann, Geschäftsführer der GEBEWO, thematisierte die prägnanten Veränderungen, die die Kältehilfe seit ihrem Beginn vor 35 Jahren durchlaufen habe. Was ursprünglich als kleines, reines Notangebot mit 80 Schlafplätzen in Kirchengemeinden startete, ist heute eine relevante Versorgungsform mit rund 1200 Plätzen, die sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten an verschiedene Zielgruppen richtet. Das macht deutlich, ihre existenzsichernde Notwendigkeit hat die Berliner Kältehilfe in den Jahrzehnten leider nicht verloren. Im Gegenteil, „was sich wie eine Erfolgsgeschichte lese, ist letztlich auch ein Armutszeugnis“ so Veltmann. Die “gängige Unterbringungspraxis der Bezirke erreicht sehr viele Menschen seit Jahrzehnten nämlich nicht. Veltmann hebt die besorgniserregende gesundheitliche Situation obdachloser Menschen hervor und verweist neben dem Grundrecht auf Wohnen auch auf das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit.
Uwe Martins von der Union für Obdachlosenrechte Berlin kritisierte, dass in der neu beschlossenen Vereinbarung keine unabhängige Beschwerdestelle verankert wurde. Er forderte, bis zum kommenden Winter eine Möglichkeit für Betroffene zu schaffen, anonym Feedback zu geben, und Kritik zu äußern, um so die niedrigschwelligen Angebote aktiv mitzugestalten. Überhaupt sei eine Einbindung der Betroffenen sinnvoll und notwendig, um Angebote zu schaffen, die nachhaltig wirken können. So brauche es zum Beispiel einen Ausbau der 24/7 Unterkünfte.
Es braucht mehr Engagement von Politik und Immobilienwirtschaft
Bezirksstadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg Oliver Nöll zeigte sich in seinem Redebeitrag pessimistisch, was die für 2030 angestrebte Überwindung von Obdachlosigkeit angeht. „Ich sehe nicht, wie wir da perspektivisch rauskommen“, so Nöll. Das sei, wenn überhaupt, nur gemeinsam zu schaffen. Als wichtige Bausteine nannte er die Vernetzung zwischen den Bezirken wie sie bspw. über die „Gesamtstädtische Steuerung der Unterbringung“ (GStU) angestrebt wird und die Verzahnung der verschiedenen Hilfsangebote am Beispiel der Einrichtung in der Ohlauer Straße.
Auch Aziz Bozkurt verwies auf die Notwendigkeit des gemeinsamen Handelns. „Wir müssen an einem Strang ziehen“ so der Staatsekretär für Soziales in seinem Redebeitrag. Bozkurt thematisierte außerdem die Zunahme von Obdachlosigkeit in den Randbezirken. Der Anteil an Notunterkünften außerhalb der Innenstadtbezirke war bereits am Vormittag beim Pressegespräch der LIGA der Wohlfahrtsverbände in der Notübernachtung der Neue Chance Thema. Neben dem Ausbau von Regelangeboten und 24/7 Unterkünften riefen Diakonie-Vorständin Andrea Asch und die Koordinierungsstelle Berliner Kältehilfe private Eigentümer von Immobilien dazu auf, leerstehende Gebäude der Kältehilfe temporär zur Verfügung zu stellen. Weitere Aspekte, die auch am Abend bei der Diskussion aufgegriffen wurden, waren die problematische gesundheitliche Versorgung obdachloser Menschen und die fehlende Barrierefreiheit in der Berliner Kältehilfe. Zum Abschluss griff Svenja Ketelsen, Leitung des Projekts MOCT, Aziz Bozkurts Wunsch an einem Strang zu ziehen auf – „Ein konkreter Termin dafür könnte der 05.06.2024 sein“. Dann findet die 7. Berliner Strategiekonferenz zur Wohnungslosenhilfe statt.