In den vergangenen Jahren ist die Zahl der obdachlosen, zugewanderten EU-Bürger*innen europaweit gestiegen. Die bestehenden Lücken in der EU-Gesetzgebung und der EU-Sozialpolitik haben maßgeblich zu diesem Trend beigetragen. Einer der Hauptgründe sind strenge Beschränkungen bei der Gewährung sozialer Leistungen für zugewanderte EU-Bürger*innen in vielen Mitgliedstaaten. Das setzt diese Bevölkerungsgruppe einem höheren Risiko aus, in schwierigen Zeiten obdachlos zu werden.
Dieses wichtige Thema wurde am Dienstag, den 5.12.2023, im Europäischen Parlament während einer Veranstaltung mit dem Titel "Freizügigkeit für alle: Zugang zu Rechten für mittellose zugewanderte EU-Bürger*innen" diskutiert. Leila Chaibi, Mitglied des Europäischen Parlaments hatte dazu eingeladen. Unsere Leiterin vom GEBEWO-Projekt мост – Berliner Brücke zur Teilhabe, Svenja Ketelsen (Foto: 4. von rechts), nahm als Expertin für die Rechte obdachloser EU-Bürger*innen in Deutschland an der Veranstaltung teil.
Herausforderungen für zugewanderte EU-Bürger*innen in prekären Lebenslagen
In der ersten Session wurde sich zu den Problematiken bei der Erlangung einer Meldeadresse ausgetauscht. Vertreter*innen aus Schweden, den Niederlanden und Belgien teilten dazu ihre Erfahrungen. Die Diskussion zeigte, dass in allen Ländern ähnliche Hürden im Registrierungsprozess von obdachlosen EU-Bürger*innen bestehen wie in Deutschland. Die Folge ist, dass viele davon abhängige Rechte nicht durchgesetzt werden können.
Es zeigte sich, dass die Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinie in vielen Ländern der EU noch nicht gut funktioniert. Die Mitgliedsstaaten haben wenige Ideen, wie sie der Zielgruppe gute Zugänge zu Hilfen garantieren können. Die Niederlande haben einen Vorstoß unternommen und einen "Aktionsplan für zugewanderte EU-Arbeitnehmer*innen" auf nationaler Ebene entwickelt. Das zeigt, dass der Wille da ist. Bei der Umsetzung gibt es jedoch noch Schwierigkeiten.
Diskriminierung auch beim Zugang zu deutschen Behörden
„Auch in Deutschland ist die Situation mittelloser EU-Bürger*innen äußerst prekär, und wir beobachten Ausschlüsse aus dem Sozialhilfesystem“, erklärt Frau Ketelsen in ihrem Statement in der zweiten Sitzung des Seminars. Aufgrund der komplexen sozialrechtlichen Gesetzgebung haben viele Beratungsstellen und Unterstützungssysteme Schwierigkeiten, die Zielgruppe angemessen zu beraten. Dies führt auf verschiedenen Ebenen zu unterschiedlichen Formen der Diskriminierung. EU-Bürger*innen werden so oft der Unterstützung beraubt, auf die sie eigentlich Anspruch hätten, so Ketelsen.
Ähnlich wie in den Niederlanden, arbeitet das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen derzeit an einem deutschen "Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit" und kooperiert dabei mit Wohlfahrtsverbänden, der Wohnungswirtschaft, Kommunen und weiteren Akteur*innen, um den Plan bis März 2024 zu veröffentlichen. Es bleibt abzuwarten, wie effektiv der Plan sein wird, um insbesondere die Obdachlosigkeit dieser speziellen Zielgruppe zu bekämpfen und den diskriminierungsfreien Zugang zu deutschen Behörden zu gewährleisten.
Freizügigkeit und Obdachlosigkeit aus europäischer Perspektive
In der zweiten Sitzung diskutierte Frau Ketelsen mit Vertreter*innen der Europäischen Kommission, ECAS (European Citizen Action Service), FEANTSA (European Federation of National Organisations Working with the Homeless) und dem Regionalbüro der UN für Menschenrechte zu dem Themenkomplex Freizügigkeit und Obdachlosigkeit. Deutlich wurde, dass die Europäische Kommission keinen starken gesetzgeberischen Einfluss auf die Mitgliedsstaaten ausüben kann bzw. es ein langwieriger Prozess ist, um Druck auf diese auszuüben. Ein Lösungsansatz ist, in der Basisarbeit im Kontext Obdachlosigkeit verstärkt darauf hinzuwirken, dass Einzelfälle bis zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) durchgefochten werden. Ob das praktisch umsetzbar ist, wurde jedoch in Frage gestellt.
Vielen Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, fehlt es an Ideen und politischem Willen, eine Lösung für obdachlose, zugewanderte EU-Bürger*innen zu finden und Obdachlosigkeit innerhalb dieser Zielgruppe zu überwinden. Die EU muss sich verstärkt dieser Thematik widmen und versuchen, Einfluss auf die Mitgliedstaaten zu nehmen. Sie muss weitere Förderinstrumente entwickeln oder bestehende – wie den EhAP+ – weiterführen. Wichtig ist auch, dass sie dazu beiträgt, sicherzustellen, dass alle Mitgliedstaaten eine diskriminierungsfreie Behandlung von zugewanderten EU-Bürger*innen beim Zugang zu Verwaltungsleistungen gewährleisten und sich die Mitgliedsstaaten nicht ihrer Verantwortung entziehen.
Frau Chaibi bot in diesem Kontext ihre Unterstützung an, um die Thematik auf EU-Ebene weiterzubringen und Hilfestellungen zu leisten: „You can always use me for your political interests in the European Comission.“