Eingabehilfen öffnen


Foto: unsplash.com - Carlos Leret

Zeit für Solidarität

• geschrieben am

In der Nacht vom 29. auf den 30. Januar hatte die Nacht der Solidarität in Berlin Premiere. Dabei handelte es sich nicht um einen Film und auch nicht um ein Theaterstück, sondern um eine berlinweite Aktion zur Zählung obdachloser Menschen. Dazu aufgerufen hatte die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales. Am Freitag veröffentlichte sie die Ergebnisse.

Obdachlosenzählung – Mehr als eine fixe Idee

Mit einer berlinweiten Zählung von Menschen ohne Obdach kommt die Senatsverwaltung einer langjährigen Forderung von Wohlfahrtsverbänden, Trägern der Wohnungsnotfallhilfe und Sozialarbeiter*innen nach. Sie ist eines der Ergebnisse einer mehrjährigen Strategiekonferenz, an der Akteure, Politik, etc. beteiligt waren. Gemeinsam hatte man die neuen Leitlinien zur Wohnungslosenpolitik entwickelt, die im September 2019 vom Berliner Senat beschlossen wurden. Damit sollen die Angebote für Menschen ohne Wohnung wirksam verbessert werden.

Viel Engagement aber auch Kritik

In kürzester Zeit hatten sich mehrere Tausend Menschen als Freiwillige gemeldet, um die Aktion zu unterstützen. Es gab aber auch Kritik. Die Befürchtung, die Zählaktion würde zu einer „Obdachlosen-Safari“ werden, wirkten die Organisator*innen entgegen, in dem ein Verhaltenskodex aufgestellt wurde. Dieser beinhaltete neben einem respektvollen Umgang auch den Hinweis, dass keine schlafenden Menschen geweckt werden sollen und das Fotografieren während der Zählung untersagt ist. Darüber hinaus gab es aber auch allgemeinere Kritik an der Aktion. So fand am selben Abend eine Kundgebung der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen vor dem Roten Rathaus statt. Sie kritisierten die Zählung als „würdelosen Vorgang“ für die Betroffenen und bezweifelten, dass die Ergebnisse überhaupt den gewünschten Erfolg haben. Auch von anderen Stellen gab es die Kritik, dass eine statistische Erfassung nichts mit Solidarität zutun habe und eine Zählung obdachloser Menschen an den eigentlichen Ursachen für Obdachlosigkeit vorbeigeht. Dazu gehören zum Beispiel das Fehlen von bezahlbarem Wohnraum für alle Berliner*innen, Zwangsräumungen, insbesondere im Winter, und der extremen sozialen Ausgrenzung von obdachlosen Menschen.

Solidarität braucht mehr als eine Zählung

Auch wir vertreten die Ansicht, dass es mehr Solidarität und weniger gesellschaftliche Ausgrenzung für obdachlose Menschen braucht. Eine statistische Erfassung reicht nicht aus, um die Situation für Betroffene nachhaltig zu verbessern. Dafür braucht es auch mehr bezahlbaren Wohnraum und weniger Profitorientierung. Denn der wirtschaftliche Wettbewerb auf dem Wohnungsmarkt produziert Benachteiligung und Ausgrenzung, das gilt es zu beenden. Dies zu ändern geht aber über die Wohnungslosenpolitik hinaus und geht nicht von heute auf morgen. Die Zählung dient als Grundlage, um die neuen Leitlinien der Wohnungslosenpolitik wirksam umzusetzen. Sie kann ein Erkenntnisgewinn sein, der einer nachhaltigen Bekämpfung von Wohnungslosigkeit Rückenwind und eine wissenschaftliche Grundlage gibt.

Überraschendes Ergebnis?

Eine Woche nach der Zählung gaben Sozialsenatorin Elke Breitenbach und Mit-Initiatorin Prof. Dr. Susanne Gerull von der Alice-Salomon-Hochschule die Ergebnisse in einer Pressekonferenz bekannt. Insgesamt wurden insgesamt 1.976 Menschen gezählt, davon 942 in Einrichtungen der Kältehilfe, 807 direkt auf der Straße und 158 in öffentlichen Verkehrsmitteln. Damit liegen die Zahlen unterhalb vieler bisheriger Schätzungen, die von 2.000 bis 10.000 akut obdachlosen Menschen ausgingen. Das ist aber nicht wirklich überraschend. Bereits in der Nacht zeichnete sich ab, dass weniger obdachlose Menschen angetroffen wurden, als ursprünglich von einigen Akteuren erwartet. Das könnte auch mit der Kritik und dem Widerstand von Betroffenen zusammenhängen, die bereits im Vorfeld der Zählung öffentlich wahrnehmbar war. Darüber hinaus sind wir uns sicher, dass mit dieser Zählung längst nicht alle Betroffenen erfasst werden konnten. Es ist bekannt, dass obdachlose Menschen auch in Abrisshäusern, leerstehenden Dachböden, Fahrzeugen, Gartenkolonien, versteckt in Parks und an vielen anderen Orten nächtigen, die nicht erfasst wurden. Trotz dieser Aspekte halten wir die Zahl von 1.976 gezählten Menschen für gewichtig genug. Sie zeigt beispielsweise, dass die knapp 1.200 Plätze in der Berliner Kältehilfe keineswegs zu groß dimensioniert sind.

Solidarität über die Nacht hinaus

Für eine aussagekräftige Wohnungsnotfallstatistik im Land Berlin ist die Zählung ein elementar wichtiger Schritt für eine erste Bestandsaufnahme. Die Kritik am Namen „Nacht der Solidarität“ ist teils begründet. Insbesondere für die Betroffenen war die Solidarität in dieser Nacht wenig spürbar. Dennoch zeigt die Zielstrebigkeit der Sozialsenatorin und vor allem die große Anzahl der Freiwilligen in dieser Nacht, dass es in Berlin den Willen zur Solidarität für Menschen ohne Wohnraum gibt. Mit den Ergebnissen liegt es jetzt in den Händen des Landes Berlin, den Weg konsequent weiter zu gehen und der „Nacht der Solidarität“, weitere Wochen und Monate mit solidarischen Ideen und Maßnahmen folgen zu lassen. Viele gute Maßnahmen sind bereits in den „Leitlinien zur Wohnungslosenpolitik“ schriftlich formuliert. Lasst Sie uns umsetzen. Let´s go for it!