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sozial.trialog – Notunterkunft Storkower Straße

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Das Format sozial.trialog will unterschiedliche Blickpunkte von Menschen aus dem Berliner Hilfesystem zeigen – von denen, die darin arbeiten, die es nutzen, die es mitgestalten. sozial.trialog sucht in offenen Gesprächen den Austausch, den Perspektivwechsel und den Einblick in verschiedene Lebensrealitäten.

Der erste sozial.trialog fand zwischen Daniel S. (50, Bewohner der Notunterkunft Storkower Straße), Robert Veltmann (54, Geschäftsführer der GEBEWO) und Volker Engels (55, freier Journalist) statt, der das Gespräch Anfang Februar 2021 auf dem Hof der Unterkunft moderierte.

Daniel, Sie sind geboren in Namibia. Rund 8.000 Kilometer Luftlinie liegen zwischen Ihrem Geburtsort und Deutschland. Wieso haben Sie sich vor 13 Jahren auf den weiten Weg gemacht?

Daniel S.: Ich habe mich in Namibia in eine deutsche Frau verliebt. Damals habe ich dort in einem Hotel eine Ausbildung zum Assistenzmanager gemacht. Der Chef des Hotels hat gesagt, dass wir uns trennen sollten. Ein schwarzer Mann und eine weiße Frau dürften keine Beziehung haben, genauso wie ein Esel und ein Löwe nicht zusammen sein könnten. Nach acht Monaten war klar, dass meine Freundin und ich zusammenbleiben wollen und ich bin ihr nach Deutschland gefolgt. Erst haben wir in Thüringen gelebt und sind dann in den Norden nach Greifswald gezogen, weil meine Lebensgefährtin dort studiert hat. Später ging es nach Berlin.

Was waren Ihre ersten Eindrücke von dem neuen Land?

Daniel S.: Ich fand die Landschaft toll: Wasser, Wald und Obst, das man pflücken kann, weil es überall an den Bäumen hängt. Was mir sehr schnell aufgefallen ist, dass die Menschen in Thüringen mich freundlich gegrüßt haben, obwohl sie mich nicht kannten. Das hatte ich nicht erwartet.
Ich habe aber auch andere Erfahrungen gemacht. In Greifswald habe ich das erste Mal wirklich krassen Rassismus erlebt. Bevor 2007 unser Kind auf die Welt kam, hat uns ein Arzt dazu gedrängt, das Kind abzutreiben. Das Kind, sagte der Arzt, würde sehr krank mit dem Downsyndrom geboren werden. Er hat wieder und wieder gesagt, dass wir das Kind nicht bekommen sollten. Zum Glück hatten wir eine tolle Hausärztin, die die ganze Zeit zu uns gestanden hat. Wir haben dann in der Uniklinik in Greifswald ganz viele Tests gemacht, die alle keine Probleme erkannt haben. Unsere Tochter ist gesund zur Welt gekommen und ich habe „Vaterzeit“ genommen, um mich um sie zu kümmern, während meine Lebensgefährtin studierte. Für uns war aber sowieso klar: Wir wollten das Kind bekommen – ob mit oder ohne eine Behinderung.
Als die Kleine auf der Welt war, wurde ich beim Einkaufen im Supermarkt oft übel von Jugendlichen beschimpft. Irgendwann standen dann rassistische Schmierereien an der Wand, die sich gegen mich gerichtet haben. Mich hat schockiert, dass es so etwas nach den Erfahrungen aus der Hitlerzeit noch in Deutschland gibt.

Robert Veltmann: Das ist wirklich eine sehr hässliche Seite Deutschlands, die Du da erlebt hast. Und das geschilderte Verhalten des Arztes halte ich für strafbar.

Daniel S.: Den Leuten von der Stadtreinigung, die die Schmierereien beseitigt haben, war das sehr peinlich. Die haben sich geschämt und gesagt, dass es ihnen leidtut. An der Uni gab es einen Club für Studierende, in dem auch Rechte waren, die mich beleidigt haben. Andere Studierende haben sich vor mich gestellt, um mich zu schützen. Dieses Verhalten der Studenten und Studentinnen hat mich beeindruckt. Die haben mich teilweise nach Hause begleitet, damit mir nichts passiert.

Robert Veltmann : Du lebst heute in einer Notunterkunft für Wohnungslose in Berlin. Hast Du das Gefühl, dass Du dort als Mensch mit dunkler Hautfarbe anders behandelt wirst als andere Wohnungslose?

Daniel S.: Mich hat ein Bewohner sehr böse beschimpft, der musste das Heim verlassen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lassen Rassismus hier nicht zu. Wir sprechen auch sehr offen darüber. Ich fühle mich verstanden und geschützt. Ich merke, dass es auch unterschwelligen Rassismus bei einigen Menschen hier gibt. Dass die mich ablehnen. Es gibt aber eben auch Leute, die mich schützen und dem Personal hier Bescheid sagen, wenn ich bedroht werde. Zu wissen, dass ich nicht allein bin, ist ein gutes Gefühl.

Robert Veltmann : Wie sieht es denn aus, wenn Du mit Behörden zu tun hast?

Daniel S.: Mit dem Sozialamt oder dem Jobcenter hatte ich noch keine Probleme. Ich habe das Gefühl, dass ich dort wie alle anderen auch behandelt werde. Mit Würde und Respekt.

Robert Veltmann, ist Rassismus ein Thema in der Arbeit mit wohnungslosen Menschen?

Robert Veltmann: Menschen vorbehaltlos gegenüber zu treten, gehört für mich zum grundlegenden Selbstverständnis professioneller Sozialer Arbeit. Diesen Grundsatz haben wir deshalb auch in unserem Leitbild verankert. Ich weiß aber auch, dass viele Menschen subtile rassistische oder sexistische Stereotypen in sich tragen. Das geht vielen von uns so. Deshalb müssen wir sorgfältig darauf achten, wo und wie sich diskriminierende Denk- und Verhaltensmuster zeigen. Vor allem aber müssen wir zunächst den Betroffenen zuhören und ihnen glauben, denn wir haben es in der Wohnungsnotfallhilfe häufig mit Menschen zu tun, die gleich mehrere Diskriminierungsformen erleben. Auf dieser Grundlage sollten wir unser eigenes Denken und Handeln immer wieder reflektieren und auch selbst Verantwortung dafür übernehmen, problematisches Verhalten zu thematisieren und zu verändern.

Daniel S.: Das finde ich auch, und zwar unabhängig von der Herkunft, Hautfarbe oder Religion. Ich erlebe zum Beispiel auch bei manchen Menschen, die aus Afrika zugewandert sind, einen tief sitzenden Aberglauben, der sehr mächtig sein kann. Es gibt afrikanische Mädchen, die nach Deutschland verschleppt wurden und hier als Zwangsprostituierte missbraucht werden. Sie glauben daran, dass ihnen oder ihrer Familie etwas Schreckliches passiert, wenn Sie sich nicht den Wünschen der Zuhälter fügen. Voodoo spielt dabei eine große Rolle. Mit Menschen, die das hier in Berlin praktizieren, habe ich Schwierigkeiten.

Robert Veltmann : Auch in Deutschland ist Aberglaube verbreitet. Es gibt Menschen, die vor dem Einzug ihr Haus ausräuchern, um böse Geister zu vertreiben oder Schutz-Symbole über dem Eingang anbringen. Ich glaube, dass das vor allem in ländlichen Regionen stattfindet, weniger in den Städten. Und es gab und gibt auch in Deutschland seltsame Rituale, zum Beispiel „Teufelsaustreibungen“, bei denen Menschen sogar schon verletzt worden oder ums Leben gekommen sind.

Daniel, Sie leben seit rund dreizehn Jahren in Deutschland, zehn davon in Berlin. Wie blicken Sie auf diese letzten Jahre in Berlin zurück?

Daniel S.: Nachdem meine Lebensgefährtin und ich uns getrennt haben, habe ich viele Dinge ausprobiert. Ich habe einen Kurs für Existenzgründung gemacht, für meine Geschäftsidee hätte ich aber sehr viel Geld gebraucht, das ich nicht bekommen habe. Anschließend war ich in einer Fortbildung zum Flüchtlingshelfer. Gearbeitet habe ich unter anderem auch in einem großen Hotel und im Bereich Service, Events und Catering. Dabei hatte ich es mit spannenden Menschen zu tun. Einmal habe ich den Mann von Frau Merkel bedient. Ich habe auch eine einjährige Missionarsausbildung absolviert. Dazu gehörte auch, dass man in ein Gemeinschaftscamp ziehen musste, in dem die Ausbildung stattfand. Deswegen habe ich die Wohnung aufgegeben. Weil nach der Ausbildung die Wohnung weg war, war ich wohnungslos und habe in verschiedenen Wohnheimen gelebt.

Robert Veltmann, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie das hören?

Robert Veltmann: Zunächst finde ich es symptomatisch für den deutschen Wohnungsmarkt, dass ein Mensch, der seine Wohnung aufgibt, keine neue mehr findet und letztlich im Wohnheim landet. Das ist leider kein Einzelfall und zeigt, wie dringend wir bezahlbaren Wohnraum brauchen. Ansonsten entdecke ich einige Parallelen, aber natürlich auch große Unterschiede. Daniel und ich gehören ja zur gleichen Generation (Ü50), wir haben beide Kinder und haben beide schon mehrere Jobs gemacht. Rein formal habe ich als Kind eines italienischen Vaters, das teilweise in Österreich aufgewachsen ist, sogar einen „Migrationshintergrund“ (lacht). Aber natürlich habe ich nie den Kontinent gewechselt und war als „Ösi“ mit weißer Hautfarbe nie mit einem solchen Rassismus konfrontiert. Auch dem Zustand der Wohnungslosigkeit war ich glücklicherweise nie ausgesetzt.

Daniel, sie mögen Literatur, besonders deutschsprachige Autoren und Autorinnen. Woher kommt diese Leidenschaft?

Daniel S.: Ich liebe Heinrich Heine! Ich finde seine Dichtung klasse, aber auch seine Haltung. Er war in seiner Zeit ein Freigeist, der seine Unabhängigkeit gelebt hat. Genau wie Karl Jaspers, Max Weber oder Karl Marx. Ich habe mir vorgenommen, alle deutschen Philosophen zu lesen.

Auf der einen Seite gibt es Heine, Weber oder Marx. Auf der anderen Seite steht in den Geschichtsbüchern auch der Völkermord der deutschen Kolonialmacht an den Herero und Nama. Beeinflusst dieses Verbrechen ihren Blick auf Deutschland?

Daniel S.: Das gehört zur Geschichte dazu. Genau wie die Konzentrationslager, die die deutsche Kolonialmacht damals in Namibia gebaut hat. Es ist kaum zu fassen, mit welcher Brutalität Menschen andere Menschen vernichten wollen. Ich verstehe nicht, wieso es so lange gedauert hat, bis sich die deutsche Regierung bei den Menschen in Namibia entschuldigt hat. Für viele Menschen meiner Generation sind die südafrikanische Apartheid und der Befreiungskampf gegen die südafrikanischen Besatzer aber präsenter, weil das noch nicht so lange her ist und wir uns besser erinnern. Aber wie gesagt: Lesen hilft mir, viele Dinge zu verstehen und einzuordnen.

In einem Zitat von Heine heißt es, dass von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, die Welt der Bücher die Gewaltigste ist. Können Sie mit diesem Zitat etwas anfangen?

Daniel S.: Bücher sind meine besten Freunde. Sie helfen mir in schwierigen Zeiten. Wenn ich mich mit Philosophen oder Schriftstellern beschäftigte, merke ich, dass viele Probleme alle Menschen betreffen. Max Weber hatte psychische Probleme, die er überwunden hat. Karl Marx war heimat- und mittellos, sein Freund Friedrich Engels musste ihm Geld zum Leben schicken. Das zeigt, dass auch die großen „Dichter und Denker“ Berg und Tal kannten. Das Leben verläuft nicht einfach geradeaus. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Das Lesen hat mir dafür die Augen geöffnet.

Robert Veltmann: Ich habe vor ein paar Jahren den Roman „Und Nietzsche weinte“ gelesen. Das Buch hat mich schwer beeindruckt. Dabei geht es darum, dass sich Nietzsche und der Arzt und Mitbegründer der Psychoanalyse, Josef Breuer, zu regelmäßigen Gesprächen treffen. Breuer versucht den somatisch leidenden Nietzsche zu therapieren und trifft auf ein intellektuell-eloquentes Gebirgsmassiv, das ihn schwer herausfordert. Die seitenlangen Gesprächsduelle zwischen dem Psychologen und dem Philosophen sind fantastisch zu lesen. Vor allem, weil letztlich beide von den Gesprächen profitieren. Daniel, ich würde dir das Buch gerne schenken, falls Du es noch nicht kennst.

Robert Veltmann, welche Bedeutung haben Bücher für Sie?

Robert Veltmann: Es gab in meinem Leben einige Bücher, die mein Leben beeinflusst haben. Während meiner Schulzeit hat mich das Buch „Im Westen nichts Neues“ von Remarque sehr beschäftigt. In dem Buch geht es um junge Menschen im Ersten Weltkrieg. Das war eine Welt in diesem Buch, die ich so vorher nicht im Kopf hatte. Nach der Lektüre habe ich gemerkt, dass ich mit Militarismus und Krieg nichts zu tun haben will. Deswegen habe in den Wehrdienst konsequent verweigert.

Wenn Sie nach vorne gucken – Wo sehen Sie sich in zwei oder drei Jahren?

Daniel S.: Ich darf meine Tochter seit drei Jahren nicht sehen, weil meine Ex-Freundin das nicht will. Das will ich ändern. Ich vermisse meine Tochter sehr. Ganz wichtig ist mir natürlich, dass ich eine Wohnung finde, sehr gerne auf dem Land. Dann würde ich mir auch einen Hund anschaffen. Ich würde gerne mehr malen und dichten. Vielleicht klappt es auch, mit einem italienischen Freund Musik zu machen. Er spielt Gitarre, ich die Trommel. Ich würde auch gern eine Ausbildung machen oder studieren. Reisen wäre mir ganz wichtig: Ich will alle europäischen Hauptstädte besuchen. Alexander von Humboldt soll gesagt haben, dass die gefährlichste Weltanschauung von Menschen kommt, die die Welt nicht angeschaut haben. Ich finde, dass das stimmt.

Robert Veltmann: Ich habe auch seit einigen Monaten wenig Kontakt zu meiner Tochter, die mit ihrem Freund nach Frankreich gezogen ist. Das ist manchmal schmerzhaft. Bei mir stehen auch mehr Reisen auf dem Programm. Ich plane, mit einem Freund sehr bald ein paar Wochen Asien zu bereisen. Ich will gerne noch viele Länder und Städte sehen, Menschen und deren Kultur erleben. Der Blick von außen erweitert den Horizont und gibt einen Input, von dem ich privat und beruflich profitiere.

Nachbetrachtung: Daniel S. wohnt zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung immer noch in der Notunterkunft. Die Perspektive bleibt zu Pandemiezeiten jedoch unklar.

Anmerkung: Wir bemühen uns um gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen, Männern und Nonbinären Geschlechtsidentitäten in Texten. Wenn in diesem Text an einigen Stellen nicht gegendert wurde, wird der gesprochene Wortlaut der Beteiligten wiedergegeben.