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Tag der Wohnungslosen 2023

Obdachlose Menschen
– die unsichtbaren Gesichter Berlins

Was tragen Menschen, die auf der Straße leben, immer bei sich? Wie sieht ihr Alltag aus? Wie kommen sie zurecht? Was beschäftigt sie? – Anhand von Gegenständen und Einzelschicksalen macht die Kampagne unseres Projekts MOCT- Berliner Brücke zur Teilhabe das Leben obdachloser Menschen in unserer Gesellschaft sichtbar und räumt mit Vorurteilen auf.

Mithilfe der Pfeile oben rechts und der Punkte unten können Sie sich durch die sechs Geschichten klicken.

  • Zerlumpte Kleidung, schmutzig und ungepflegt – oder wie sieht ein obdachloser Mensch aus?

    Es ist ein heißer und schwüler Sommertag in Berlin. Die Luft in der Traglufthalle am Containerbahnhof ist dick und schwer. Oscar (28) ist Stammgast hier im Tagestreff, einer Tagesunterkunft für Obdachlose in Friedrichshain. Nachdem er gegessen und geduscht hat, entspannt er sich gerne im Außenbereich. Dort ist es nicht zu laut und er kann seine Musik hören.

    “All I want is your understanding,
    As in the small act of affection
    Why is this my life?
    Is almost everybody's question.
    And I've tried,
    Everything but suicide,
    But it's crossed my mind.”

    Der Song „Just a Thought“ von Gnarls Barkley ist momentan eines seiner Lieblingslieder und er hört es in Dauerschleife. „Ich liebe Musik!", sagt Oscar und seine Augen funkeln. „Ich liebe Soul, Jazz, Blues, aber ich höre auch Rap und Hip-Hop. Musik lässt mich lebendig fühlen."
    Oscar kam vor sechs Monaten aus Polen nach Deutschland, um als Bauarbeiter zu arbeiten. Nachdem sein Arbeitgeber in Stuttgart seinen Lohn nicht ausgezahlt hatte, blieb ihm kein Geld mehr für seine Unterkunft und er landete auf der Straße. Bald darauf machte er sich auf den Weg nach Berlin.
    „Ich habe eine kleine Tochter zu Hause. Sie ist vier Jahre alt. Ich bin hier wegen ihr, weil ich ihr ein besseres Leben ermöglichen möchte als ich es hatte. Ich möchte ihr eine Zukunft geben."
    In seinem Rucksack trägt Oscar einen Schlafsack, ein frisches T-Shirt, Jacke, Sonnenbrille, Cappy, Portemonnaie und Handy. Die rote FC-Bayern-Jacke ist sein Lieblingsstück. Er liebt die leuchtende Farbe und die Tatsache, dass sie gebrandet ist. Es trage zu seinem swag bei, sagt er.
    „Es ist nicht einfach, sauber zu bleiben, wenn man obdachlos ist, aber ich gebe mein Bestes. Stil ist mir sehr wichtig und in Berlin spenden die Leute coole Sachen für Obdachlose, also finde ich oft erstaunliche Kleidung in den Unterkünften. Das größte Problem sind frische Unterwäsche und Socken, die sind immer schwer zu finden. Die Leute sollten mehr davon spenden."

  • Alle aggressiv und gewalttätig? Hast du Angst vor obdachlosen Menschen?

    „Ich bin total durcheinander", lautet der neueste Facebook-Beitrag von Gordon (45). Daneben ein Bild von einem Bär und einem Pinguin, die sich umarmen. Daneben steht: „Eines Tages wird dich jemand so fest umarmen, dass deine zerbrochenen Stücke zusammenhalten."
    Zwei Jahre nachdem Gordon eine Frau aus Berlin kennenlernte, zog er nach Deutschland. Das Leben in den USA war für ihn sowieso schwierig. Er wuchs in einem gewalttätigen, einkommensschwachen Haushalt auf. Und die Gewalterfahrungen verschlimmerten sich noch, nachdem Gordon sich als Transmann outete. „Meine Familie, insbesondere mein Vater, wollten meine Queerness 'heilen'.“ Er wurde mit einem Mann zwangsverheiratet. „Nachdem ich Geld gespart hatte, lief ich weg“, berichtet Gordon.
    In Nora aus Berlin glaubte Gordon seine wahre Liebe gefunden zu haben. „Mir gefiel, dass sie über meine körperlichen Einschränkungen hinwegsah und mich akzeptierte.“ Gordon lebt infolge eines Autounfalls in seinen Zwanzigern mit einem eingeschränkten Arm. Doch es kam anders: Die Beziehung mit Nora brachte ihn erneut mit Gewalt in Kontakt. „Als sie mich aus unserer Wohnung zwang, nahm sie alles mit und ich landete auf der Straße, ohne etwas."
    Auf dem Foto sind Gordons wertvollste Besitztümer zu sehen, die er immer bei sich trägt: Jeans, Haarbürste, Spiegel, Lippenbalsam, Deo, Medikamente, Ladekabel, Kopfhörer, Powerbank, Portemonnaie, Tagebuch und ein Bleistift. Sein Portemonnaie ist ihm am Wichtigsten, da er Geld spart, um zu einem Freund nach Großbritannien ziehen zu können. Durch das Sammeln von Flaschen und etwas Sozialhilfe aus den USA hatte er bereits 900 Euro gespart. Diese wurden ihm jedoch gestohlen: „Ich wachte eines Nachts auf, um die Toilette in einer Notunterkunft zu benutzen. Danach war mein Portemonnaie verschwunden. Alle meine Ersparnisse waren weg."
    Obdachlosenunterkünfte in Berlin bieten selten sichere Aufbewahrungsmöglichkeiten. Viele Personen werden bestohlen. Nächtliche Übergriffe auf der Straße und in Unterkünften, ein scheinbar ständiger Zyklus von Gewalt, bereiten Gordon große Sorgen.

  • Alles Taschendiebe und Betrüger? Oder warum landen obdachlose Menschen im Gefängnis?

    Das berühmte RAW-Gelände in Berlin ist voller Menschen: Berliner*innen, die zur Boulderhalle eilen, Jugendliche, die im Skatepark abhängen, Touristen, die den bekannten Kulturort erkunden. Es ist der perfekte Platz, um Flaschen zu sammeln. Das macht Peter (46) jeden Dienstag und Samstag nach der Arbeit. „Flaschen sammeln war meine einzige Einnahmequelle als ich noch auf der Straße lebte, also habe ich es irgendwie als Gewohnheit beibehalten."
    Peter verließ seine Heimatstadt Tallinn in Estland vor vier Jahren für einen Job, der ihm in einer Fabrik in Süddeutschland versprochen wurde. Als er ankam, stellte er fest, dass er von einem Vermittler betrogen wurde, der im Voraus Geld von ihm genommen und versprochen hatte, sich um seine Dokumente zu kümmern. „Hier erwartete mich nicht nur keine Arbeit, sondern es gab auch keine Fabrik!" Schnell landete Peter auf der Straße. „Ich schämte mich, zu meiner Mutter und meiner Schwester zurückzukehren, weil ich pleite war."
    Nach einigen harten Jahren erhielt er einen Job im Cassiopeia, einem bekannten Berliner Club. Dort reinigt er zweimal pro Woche den Sommergarten, ist kranken- und sozialversichert. Doch:
    „Eines Tages bekam ich einen Brief und erfuhr, dass ich wegen Schwarzfahrens ins Gefängnis musste. Ich war am Boden zerstört. Dieser Job bedeutete mir alles. Er hielt mich über Wasser. Und jetzt würde ich ihn wegen so etwas verlieren. Ich wäre doch nie ohne Ticket gefahren, wenn ich das Geld dafür gehabt hätte!"
    In seinem Rucksack trägt Peter immer eine Powerbank, Ladekabel, Schlüsselbund, Portemonnaie, Handy, Tabak, T-Shirt, Zahnpasta, Zahnbürste, Deo und eine gültige Fahrkarte. Nachdem er etwas mehr als einen Monat im Gefängnis war, ist seine Monatskarte heute das Wichtigste, was er immer bei sich hat.
    Von Unterkünften über Suppenküchen bis hin zu Kleiderkammern, Beratungsstellen, dem Jobcenter und der Sozialwohnhilfe. Einen Tag als obdachlose Person zu überleben bedeutet ständig in Bewegung zu sein. Viele Menschen landen in Haft, weil sie ohne Fahrschein fahren – was letztlich eine Strafe für Armut ist!

  • Verrückt, Prostituierte, Nutte. Was ist das Erste, das dir einfällt, wenn du eine obdachlose Frau siehst?

    Es ist ein kalter Augustmorgen in Berlin. Der Wind ist scharf und die Wolken dicht. Die ganze Woche über hat es geregnet und nachts fallen die Temperaturen unter 15 Grad. Eine Gruppe von Menschen steht vor der Arztpraxis für nicht krankenversicherte Personen am Stralauer Platz. Sie warten auf ihre erste Mahlzeit des Tages.
    Unter ihnen ist auch Maja (28). Als der kalte Wind sie trifft, zittert ihr schmaler Körper unter der viel zu großen Daunenjacke. „Wir müssen morgens um 8 Uhr die Unterkunft verlassen und die Praxis öffnet erst um 10 Uhr. Aber das ist in Ordnung. Letzte Woche mussten wir in einem Zelt schlafen und es war so kalt! Da gab es keine freien Plätze mehr für uns als Paar und ich möchte nicht ohne meinen Mann schlafen. Ich habe Angst."
    Es ist Majas viertes Jahr, in dem sie im Sommer als Saisonarbeiterin aus Bulgarien nach Deutschland kommt. Sie arbeitete zweimal in der Landwirtschaft, einmal in einem Fleischverarbeitungsbetrieb und dieses Jahr als Postbotin für den Subunternehmer eines Postversandhandels.
    „Ich habe schon in Obdachlosenunterkünften übernachtet, weil sie besser waren als die Unterkünfte, die unser Arbeitgeber zur Verfügung stellte. Aber dieses Jahr ist die Firma, für die wir sonst gearbeitet haben, pleite gegangen und wir haben keine andere Wahl."
    In ihrem Rucksack trägt Maja eine Trinkflasche, Toilettenpapier, Proteinriegel, frische Leggings und Unterwäsche, Zahnbürste, Schere, Rasierer, Nagelknipser, Eyeliner, Wundheilgel, Ohrentropfen und Salbe. Die Asthmapumpe ist das Wichtigste. „Vor Kurzem hatte ich einen Anfall und konnte nicht mehr atmen. Der Krankenwagen kam und ich erfuhr, dass ich schweres Asthma habe. Meine Medikamente kosten etwa 60 Euro. Aber ich habe keine Krankenversicherung, also kann ich sie mir nicht leisten. Ich hoffe, ich werde heute in der Arztpraxis welche erhalten."

  • Alkohol und die Straße – was war zuerst da, das Huhn oder das Ei?

    Frühe Morgenstunden am Ostbahnhof. Jenny (22) sitzt auf den Treppen vor dem Bahnhof, ihre Augen sind geschlossen, während sie ihr Gesicht der Sonne zuwendet. Ein Lächeln liegt auf ihren Lippen und sie kichert über die Kommentare ihrer Freunde. „Stell dir einfach vor, du bist auf den Bahamas mit einem Cocktail in der Hand!"
    Als Jenny aufsteht, stolpert sie. Es scheint, als könne sie kaum gehen. Ihr Gesicht ist rot und ihr Atem riecht nach Alkohol. „Ich starte meine Morgen immer mit einem Bier, das bringt mich in gute Stimmung."
    Jenny mochte Alkohol nie wirklich: „Mein Vater war ein gemeiner Trinker, deshalb habe ich Alkohol wirklich gehasst als ich ein Kind war. Ich trank ein oder zwei Bier mit Freunden, wenn wir ausgingen, aber nicht mehr. Als ich vor fünf Monaten in Berlin obdachlos wurde, begann es zu eskalieren."
    Jenny trinkt jetzt jeden Tag, den ganzen Tag über. Sie beginnt morgens mit einem Bier und wechselt gegen Mittag zu Schnaps, normalerweise Wodka, weil er billig ist. „Ich glaube, das meiste, was ich je an einem Tag getrunken habe, sind zwei Flaschen Wodka und ich weiß nicht wie viele Biere. Danach fühlte ich mich eine Woche lang krank. Ich mag es nicht, dass ich so viel trinke und ich weiß, dass ich aufhören muss. Aber ich kann auf der Straße nicht überleben, ohne es. Alkohol hilft mir, meine aktuelle Situation zu vergessen und das Leben auf der Straße zu überstehen."
    Jenny trägt keinen Rucksack mehr, weil er ihr vor kurzem gestohlen wurde. Sie hat nur eine kleine Tasche, mit den nötigsten Dingen: Ein Zettel mit Kontakten zu potenziellen Arbeitgebern, Schmetterlingsaufkleber, Damenbinden, Zahnbürste und Essen. Das Wichtigste für sie ist die Menstruationsbinde, weil sie gerade ihre Periode hat. „Es ist sehr schwer, weil es kaum öffentliche, kostenlose Toiletten für Frauen gibt, nur für Männer. Manchmal frage ich nach der Toilette in einem Restaurant oder einer Bar. Einige lassen mich rein, andere nicht. Es hängt davon ab, wie ich in dem Moment aussehe, ob ich an dem Tag geduscht habe oder wie viele Drinks ich hatte. Es ist schwer, eine Frau auf der Straße zu sein."

  • Drogendealer, Goldgräber oder Krimineller – ist eine schwarze Person jemals einfach nur ein Mensch?

    Es ist Nachmittag in der Hauptstadt. Die S-Bahn nähert sich ihrem Gleis am Alexanderplatz. Will (47) steigt in den Zug ein und eilt zu einem Platz am Fenster. Eine bereits sitzende Frau umklammert ihre Handtasche noch fester. „Keine Sorge", sagt er zu ihr: „Ich werde nicht Ihr Portemonnaie stehlen, ich möchte nur sitzen." Sie starrt ihn misstrauisch an.
    „Ich erlebe so eine Scheiße jeden einzelnen Tag. Und es löst immer etwas aus. Das ist purer Rassismus. Ich bin kein Dieb, ich bin einfach nur schwarz."
    Will ist auf dem Weg zu seiner neuen Wohnung. Obwohl er vor et zwei Monaten eingezogen ist, hat er gestern Nacht draußen geschlafen. „Ich war sieben Jahre lang auf der Straße. Jetzt muss ich mich erst daran gewöhnen, in einer Wohnung zu leben. Es fühlt sich ein wenig klaustrophobisch an."
    Vor einigen Jahren, als er sich von seinem Partner trennte, brauchte Will Unterstützung, um eine bezahlbare Wohnung zu finden und wieder auf die Beine zu kommen. „Ich bin seit über 15 Jahren in Deutschland. Ich habe hart gearbeitet, Deutsch gelernt, meinen Aufenthaltsstatus erhalten. Ich habe alles nach den Regeln gemacht. Aber als ich das erste Mal Sozialhilfe benötigte, habe ich in deutschen Institutionen so viel Diskriminierung und Rassismus erfahren, dass ich beschlossen habe, außerhalb des Systems zu leben.“
    Während seiner Jahre auf der Straße blieb Will ein Einzelgänger: „Ein schwarzer Typ auf der Straße ist immer nur ein schwarzer Typ, nie ein Mensch. Neulich hat mich sogar eine Frau angeschrien, ich solle zurück nach Afrika gehen, nur weil ich Flaschen gesammelt habe."
    In seinem Rucksack trägt Will einen Laptop, Kopfhörer, Tupperware, Besteck, Pistazien, Bodylotion, Deo, Zahnpasta, Zahnbürste, ein sauberes Paar Jeans sowie eine Mütze. Das Buch „The Shadow of the Sun“ von Ryszard Kapuscinski ist sein wertvollster Besitz: „Ich beneide diesen Mann. Er hat so viel von Afrika gesehen und war immer Zeuge, wenn es Unruhen auf dem Kontinent gab. Es macht mich krank zu sehen, wie kolonisiert und ausgebeutet der Kontinent noch immer ist. Die ganze Welt will alles, was Afrika hat – außer seiner Menschen."


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